Thommie Bayer - Singvogel Piper Verlag
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"Wie schnell sich die Dinge ändern. Vor weniger als drei Wochen war ich noch ein zufriedener Pessimist in einem aufgeräumten Leben."
Als der Drehbuchautor Christian Uhlig am Morgen seinen Computer einschaltet, findet er die E-Mail einer Unbekannten. Sie stammt von Jana Brüggemann, einer jungen Architekturstudentin, die sich begeistert über einen TV-Film äußert, zu dem Uhlig das Script geschrieben hat. Der Autor fühlt sich geschmeichelt, zumal sein bester Freund exakt diesen Film ebenfalls per Mail total verrissen hat, und antwortet ihr sofort.
Der Titel des Romans ist dabei zunächst Programm, Jana selbst behauptet von sich ein Singvogel zu sein: "Ich plappere, dabei wollte ich doch extra kurz schreiben, um meine Freundin nicht zu nerven. Aber ich bin ein Singvogel – ich muß immer plappern."
Aus dem anfangs unverbindlich-lockeren Plauderton entwickelt sich ein ausgesprochen intensiver, höchst intimer E-Mail-Austausch und in dessen Folge eine Bindung, mit der der Drehbuchautor keinesfalls gerechnet hat: Aus Neugierde wird Interesse – und aus Zuneigung erwächst eine immer tiefer werdende Verbundenheit. Und so werden auch die Mails der beiden Protagonisten zunehmend privater. Jana berichtet, dass der Mann, den sie Zeit ihres Lebens für ihren Vater hielt, gar nicht ihr Vater ist und dass sie sich von ihrem Freund getrennt hat. Christian erzählt von sich, von seiner in die Jahre gekommenen Ehe, seinen Selbstzweifeln und von seiner beginnenden Midlife-Crisis.
Und er gerät mehr und mehr in den Sog des fremden Lebens: Janas gekränkter Exfreund schickt ihm bedrohliche Mails, Anhänge mit pornografischen Bildern und schreckt auch nicht vor Vandalismus zurück.
Aber auch der Drehbuchautor verstrickt sich mehr und mehr in sein Lügengewebe, er verschweigt seiner Frau den E-Mail-Verkehr und ist beinahe erleichtert, als sie sich aus beruflichen Gründen auf eine längere Reise begibt, denn so ist es leichter für ihn, die stetig wachsenden Irritationen seines Gefühlslebens vor ihr zu verbergen.
Als Jana mit einer Studentengruppe nach Venedig reist, treibt es auch Christian dorthin. Er will die junge Frau, über die er nun schon so viel weiß, endlich in Augenschein nehmen. Gemeinsam sitzen sie in einem Internet-Cafe und in Echtzeit mailt Jana ihm, dass sie ihn erkannt habe, schließlich würde sie sein Foto von der Autoren-Homepage kennen. Christian gibt sich jedoch nicht zu erkennen und flieht.
Aber dann kommen Wahrheiten ans Tageslicht, die alles für immer verändern ...
Thommie Bayer beschreibt die Geschichte des alternden Helden Christian, der fest in seinem bürgerlichen Leben verhaftet ist, mit großem psychologischem Feingefühl. Er und auch Jana sind glaubwürdige Protagonisten. Der Leser mag sich oft als Voyeur fühlen, wenn er die zunehmend intimer werdenden Mails der beiden liest, aber er kann sich vermutlich sowohl in Jana als auch in Christian Uhlig hineinversetzen.
Wie viele seiner deutschsprachigen Kollegen glaubt leider auch Thommie Bayer seit ein paar Jahren, dass ein "guter Roman" zwangsläufig auf kriminalistische Elemente angewiesen ist. Die überraschende Wendung gegen Ende, durch die Christians und Janas Geschichte aufgelöst wird, ist von langer Hand vorbereitet und erzeugt einen positiven Spannungsbogen, glaubwürdig ist sie allerdings nicht. Gleiches gilt für den Schluss des Romans – war diese Dramatik wirklich notwendig?
Dennoch handelt es sich um einen gut geschriebenen, interessanten und durchaus lesenswerten Roman!
© Heide John 2006
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