Diane Broeckhoven -
Ein Tag mit Herrn Jules Rowohlt
Taschenbuch Verlag
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Meine Tochter entdeckte das Büchlein, ein Leichtgewicht von 92 Seiten, das es in sich hat. Sie erzählte mir die Geschichte von Alice und Jules, einem in die Jahre gekommenen Paar. Nicht gerade eine Story, die eine 40jährige interessiert, sollte man meinen. Aber...
Diane Broeckhoven erzählt von etwas sehr Ungewöhnlichem, je nach Sichtweise könnte man auch sagen, von etwas Schockierendem. Sie hat eine sehr genaue Vorstellung und beschreibt behutsam und liebevoll dieses alte Paar, das mehr voneinander weiß, als es sich eingesteht, das die Lügen des anderen mit dem Mäntelchen der Liebe verhüllt hat, eine gewisse Weisheit erlangt und seine Rituale gefunden hat.
Zu diesen Ritualen gehört, dass Jules morgens als erster aufsteht, die Kaffeemaschine in Gang setzt und den Frühstückstisch deckt.
... Fröstelnd ging sie in die Richtung, aus der der Kaffeeduft kam. <Es hat geschneit, Jules>, sagte sie zum Hinterkopf ihres Mannes, der über die Rückenlehne des Sofas ragte. Meistens wartete er in der Küche am Frühstückstisch auf sie, den er immer auf die gleiche, akkurate Weise gedeckt hatte. Jules antwortete nicht, was ihr ein Lächeln entlockte. Bestimmt starrte er wehmütig in den Schnee und dachte dabei an früher, als es noch richtige Winter gegeben hatte, eisig und rau. Langsam kam sie näher, gebremst durch ihre steifen Knie. Aus einem Impuls heraus legte sie kurz die Hand auf sein schütteres Haar. Sacht auftretend ging sie um das Ledersofa herum und setzte sich neben ihren Mann. Dass er von seinen eigenen Hausregeln abwich, um durch die Wand aus Glas die Schneelandschaft in sich aufzunehmen, stimmte sie mild. Auf diese Weise bekam sie selbst unerwartet ein Stückchen Freiheit geschenkt. Die Pflicht rief sie noch nicht gleich.
Jules sitzt tot auf dem Sofa. Alice kann es nicht fassen. Sie braucht Zeit, seinen Tod zu begreifen und sie nimmt sich die Zeit. Sie setzt sich zu ihm und redet mit ihm, als ob das Blut noch in seinen Adern pulsieren würde. Erinnerungen steigen auf, alte Verletzungen schmerzen. Endlich ist der Augenblick gekommen, Jules zu sagen, dass sie um seine Untreue gewusst hat, dass sie mit nicht ganz fairen Mitteln um den Fortbestand ihrer Ehe gekämpft hat. Sie hat ihren Jules geliebt und sie liebt ihn noch immer.
Alice musste wieder weinen. Sie dankte dem Himmel, dass in ihrem Wohnzimmer kein grauer Bestattungsunternehmer saß, der sich höflich räusperte und abwartete, bis sie sich wieder gefasst hatte. Dass sie ihre eigene Wehmut nicht verbergen musste, um den Kummer ihres Sohnes zu lindern. Dass ihr der Hausarzt keine Beruhigungspillen zusteckte als Pflaster auf eine Wunde, die eigentlich keine war. Sie wurde sich bewusst, wie gut es ihr an diesem weißen Tag eigentlich ging. Aus Jules war die Luft entschwunden wie aus einem Ballon, das Leben war vollständig aus ihm weggeflossen. Die Nabelschnur, die seinen alten, schwerfälligen Körper mit ihr und dem Leben verbunden hatte, war immer dünner und fransiger geworden. Jetzt war sie gerissen. Jules war im Verlauf des Tages in sie hineingeströmt. Alles, was nicht vergessen werden durfte, was sie beide in guten wie in schlechten Zeiten verbunden hatte, hatte sie in ihrem tiefsten Innern gespeichert.
Alice weiß genau
was zu tun ist und sie wird es am nächsten Tag tun.
Ich habe die Geschichte von Alice und Jules sicher anders gelesen als meine
Tochter. Für sie war es eine skurrile Story, für mich die berührende Erzählung
eines langen Abschieds. Es sollte möglich sein, sich so zu verabschieden. Die
Realität sieht leider ganz anders aus.
Wer ist Diane Broeckhoven? Ich hatte ihren Namen nie zuvor gehört. Der Verlag
teilt mit, dass sie 1946 in Antwerpen geboren wurde, dreißig Jahre in den
Niederlanden lebte und heute wieder in ihrer Geburtsstadt lebt. „Ein Tag mit
Herrn Jules“ ist ihr zweites Buch für Erwachsene. Sie hat rund zwanzig
Jugendbücher veröffentlicht und wurde mit bedeutenden Literaturpreisen
ausgezeichnet.
© Elke Tegtmeyer 2006
Alice liebt die halbe Stunde zwischen Wachwerden und Aufstehen. Die Bettwäsche ist warm, weich und umhüllt sie mit dem vertrauten Geruch ihres Mannes: „Ein Hauch von verflogenem Alkohol, Muskatnuss und altem Mann“. Während Alice ihren Träumen nachhängt, steht Jules in der Küche und tut das, was er jeden Morgen tut: Er kümmert sich um das Frühstück. Und erst wenn der Duft des frisch gebrühten Kaffees durch die Wohnung zieht, ist die zeitlose halbe Stunde zwischen Erwachen und Aufstehen vorbei.
Alice und Jules sind alt geworden – und vielleicht waren sie es innerlich schon immer. Sie pflegen ihre festen Rituale, dazu gehört nicht nur die strikte Aufgabenverteilung, sondern auch der allmorgendliche Besuch des autistischen Nachbarsjungen David. Punkt 10 Uhr steht er vor der Tür, um mit Jules eine Partie Schach zu spielen.
Aber an diesem Tag, von dem Diane Broeckhoven erzählt, ist alles anders. Die Wohnung riecht zwar nach Kaffee, aber Jules sitzt erstaunlicherweise auf dem Sofa statt in der Küche zu stehen. „Sie schüttelte ihn und schlug ihn, bekam aber keine Bewegung in den starren Körper.“ Denn Jules ist tot. „Im glückseligsten Moment ihres Tages“, heißt es weiter, „war er gestorben. Doch vorher hatte er noch seine Pflicht getan. Er hatten den Tisch gedeckt und Kaffee gekocht.“
Das Ritual ist also durchbrochen – und Alice fasst einen Entschluss: Sie beschließt, einen letzten Tag mit ihrem Ehemann zu verbringen und ihm all das zu sagen, was nie gesagt wurde.
Diese kleine Novelle in
deren Mittelpunkt Alice, Jules und David stehen, ist eine ergreifende, fein
gesponnene Geschichte über Rituale, Liebe, Verrat und Verlust – einen Verlust,
der am nächsten Morgen durch den „Duft eines neuen Tages“ ein klein wenig
ausgeglichen wird.
Diane Broeckhoven wurde 1946 in Antwerpen geboren. Sie hat dreißig Jahre in den
Niederlanden verbracht und lebt nun wieder in ihrer Geburtstadt. Sie hat zwanzig
Jugendbücher veröffentlicht. Ein Tag mit Herrn Jules ist ihr zweites Buch für
Erwachsene.
© Heide John 2006
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