Jenny Erpenbeck: Geschichte vom alten Kind Jenny Erpenbeck - Geschichte vom alten Kind

btb Verlag 
broschiert,
124 Seiten 
7
,00 € 
ISBN 3-442-72686-7

 

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Der Berliner Autorin Jenny Erpenbeck war eine literarische Karriere durch ihre Familie fast schon vorausbestimmt: Die Großeltern und der Vater haben eigene Romane veröffentlicht, die Mutter arbeitet als Übersetzerin. Geschichte vom alten Kind ist Jenny Erpenbecks erste Veröffentlichung.

Ein Mädchen wird nachts auf der Straße gefunden, aufgedunsen und unansehnlich, ohne Gedächtnis, scheinbar ohne Vergangenheit - aufgegriffen von der Polizei, nur mit den Kleidern am Leibe und einem Blecheimer in der Hand. Doch auch diese wenigen Dinge, die sie vielleicht mit ihrer Vergangenheit verbinden, werden ihr genommen, als sie in ein Waisenhaus gesteckt wird, ein unwirklich scheinendes Waisenhaus, das viel Wert auf die Tugend legt; es gibt keine Spiegel, da Eitelkeit eine Todsünde sei, die Schränke lassen sich nicht abschließen und werden wöchentlich genau inspiziert.

Auf Grund ihres Aussehens wird das Mädchen von den anderen Kindern gequält und verachtet, doch scheint sie sich in dieser Rolle wohl zu fühlen. Auch in der Schule ist sie die Schlechteste. Nur so könne sie sich die unterste Position der Rangordnung sichern, und dies sei die einzige Position,  die einem niemand streitig machen möchte, eine sichere Position also. 

Diese psychologische Darstellung mutet zunächst etwas naiv an. Die Nebencharaktere sind durchgehend nur ansatzweise charakterisiert, nur so weit, wie sie für den Fortgang der Geschichte eine Rolle spielen. Das Ganze wirkt unwirklich, gleichermaßen wie ein Märchen. Doch gerade durch eine derartige, eigentümliche Konzentration auf die Hauptfigur beweist Jenny Erpenbeck große menschliche Sensibilität.

Je weiter das Buch fortschreitet, desto konkreter werden die Beschreibungen der Erlebnisse des Mädchens und des Alltags im Heim,  während parallel auch das Mädchen nach und nach die Realität besser verstehen kann, und sich nach und nach besser in ihre Umgebung einfügt, ohne dabei ihr merkwürdiges Wesen aufzugeben. Mit dieser Parallele gelingt Jenny Erpenbeck das Kunststück, dass Auffassungsgabe von Hauptfigur und Leser auf derselben Ebene liegen.

Die Sprache ist ein eigentümlicher Singsang, wenig konkret, wenig auf die Tatsachen eingehend - vielmehr auf interessante Weise eigentümlich und geheimnisvoll. Ganz behutsam werden hier und da Erinnerungen des Mädchens angedeutet. Das Ende kommt ein wenig plötzlich und etwas kurz, vielleicht nicht ganz so überraschend, wie es Jenny Erpenbeck eigentlich beabsichtigt hätte.

Geschichte vom alten Kind ist eine sehr interessante Veröffentlichung einer interessanten jungen Autorin, von der wir uns auch in Zukunft viel erhoffen.

© Till Weingärtner 2001


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