Johann Wolfgang von Goethe:  Das Märchen von der Schlange und der schönen Lilie - Rezension Literaturmagazin Lettern.de Johann Wolfgang von Goethe:  Das Märchen von der Schlange und der schönen Lilie

Pforte Verlag
Hardcover
, 56 Seiten
26
,00 €
ISBN: 3-856-36111-1

 

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Lassen Sie sich verzaubern!

Drei Kunstmärchen hat J. W. von Goethe uns hinterlassen: die "neue Melusine", den "Neuen Paris" und das "Märchen", die sich ursprünglich sämtlich in den "Unterhaltung deutscher Ausgewanderten" befanden. Im "Märchen" findet sich die Essenz der Märchen schlechthin und – für den Leser, der es interpretatorisch lesen mag – auch eine höchst interessante Einschätzung der Geschichte und Kultur. Goethes Kunstmärchen begründeten eigentlich erst die Gattung und waren richtungsweisend für die Märchendichtung der Romantik. Der Dichterfürst selbst betrachtete die Märchen als die Urform poetischen Gestaltens.

Mit Erstaunen und Ehrfurcht sah die Schlange in eine glänzende Nische hinauf, in welcher das Bildnis eines ehrwürdigen Königs in lauterem Gold aufgestellt war. Sein wohl gebildeter Körper war mit einem einfachen Mantel umgeben, und ein Eichenkranz hielt sein Haar zusammen.
„Was ist herrlicher als Gold?" fragte der König.
„Das Licht," antwortete die Schlange. „Was ist erquicklicher als Licht?" fragte jener.
„Das Gespräch," antwortete diese.
„Was hast du beschlossen?“
„Mich aufzuopfern, ehe ich geopfert werde.“

Goethes Märchen ist ein wundersames Spiel mit der Phantasie, aber es ist auch ein literarisch höchst bedeutsamer Text, weil es zugleich eine poetische Rede über Wesen und Funktion der Dichtung ist. Die Hochzeit des Jünglings mit der schönen Lilie markiert den Zeitpunkt, an dem er vom goldenen, silbernen und ehernen König als rechtmäßiger Nachfolger eingesetzt wird. Goethe hat diese drei Könige als Repräsentanten der drei Zeitalter – Antike (Weisheit), Mittelalter (Schein) und den Absolutismus (Gewalt) – ins Bild gesetzt. Als ihre Herrschaft beendet ist, sinkt der vierte, zusammengesetzte König "unförmig in sich zusammen", was eindeutig als Verweis auf den Tod Ludwigs XVI zu lesen ist. Deshalb heißt es hier auch "Wer nicht lachen konnte, musste seine Augen weg wenden; das Mittelding zwischen Form und Klumpen war widerwärtig anzusehen."

Als programmatische Formel zieht sich der Satz "Es ist an der Zeit" durch Goethes Text. Er besagt, dass die Erlösung naht. Mit dem Jüngling beginnt das vollkommene Zeitalter: Die Kunst soll in der neuen Zeit die Funktionen übernehmen, die zu Goethes Lebzeiten der politische Macht, im Mittelalter die Kirche und in der Antike der Philosophie zugeordnet waren. Eine weitere zentrale Figur ist die Schlange. Sie wird von den – aus Frankreich kommenden – "Irrlichtern" der Aufklärung geweckt, schluckt deren Gold, gleitet anschließend in den unterirdischen Tempel und begibt sich schlussendlich an den Hof der schönen Lilie. Am Ende des Märchens opfert die Schlange sich, indem sie sich zur Brücke macht über die Reiter, Wagen und Tiere ungehindert auf die andere Seite gelangen können. Erst das Opfer der Schlange ermöglicht die Kommunikation der Menschen untereinander. Mit dem Weg der Schlange zeichnet Goethe den Bildungsgang des Dichters nach. Ergänzt wird dieses Symbol durch den "alten Mann mit der Lampe", in dem unschwer Goethe selbst zu erkennen ist. Der Alte verwandelt "alle Steine in Gold, alles Holz in Silber und tote Tiere in Edelsteine". Ebenso wie die Schlange kennt er die vier Geheimnisse, mit deren Hilfe ein Kunstwerk entsteht: Das Licht, das Gespräch, das Offenbare der Natur und die Liebe, "die nicht herrscht, aber bildet“.

Am Schluss der Märchens wird die Hochzeit von Jüngling und Lilie gefeiert und damit die Vermählung von Kunst und Natur. Es ist eindeutig, dass dies als weiteres Sinnbild für die Entstehung des vollkommenen Kunstwerks zu verstehen ist. All jene Leser, die das Märchen lesend interpretieren wollen, finden unzählige Anspielungen verschiedenster Art. Dennoch ist es genauso legitim, sich von dieser wunderbaren Geschichte einfach für eine kurze Weile verzaubern zu lassen.

Das schmale Bändchen finden Sie in einer preiswerten Ausgabe bei DTV. Ein schöne, illustrierte Ausgabe bietet Die Pforte an.

© Heide John 2008


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