Helene Hegemann: Axolotl Roadkill - Rezension Literaturmagazin Lettern.de Helene Hegemann: Axolotl Roadkill

Ullstein Verlag
broschiert, 208 Seiten
14
,95 €
ISBN: 3-550-08792-6
Hörbuch:
3-899-03694-8

 

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Auf der Überholspur in den Irrtum

Nun also das Buch zum Hype. Nachdem in den verschiedenen Medien, Zeitungen und Magazinen schon ausführlich berichtet wurde, über das Alter der Autorin, deren kurzer Biografie und wie sie ihre Haare je nach Stimmung trägt (was natürlich jeder wissen will), bestimmt nun der Vorwurf des Plagiats die Berichterstattung. Den Vorwurf hat Helene Hegemann nun als Zitat eingeräumt. Und wo wir schon einmal dabei sind: Der Dialog auf der Seite 43 ist fast komplett dem französischen Horrorthriller "Martyrs" entnommen und nicht als Zitat gekennzeichnet. Auf alle diese Aspekte soll hier nicht eingegangen werden, denn wenn etwas bei der Berichterstattung zu kurz kam, dann das, worum es eigentlich gehen sollte: Das Buch an sich.

Die minderjährige Mifti, einst von ihrer Mutter misshandelt und vernachlässigt, lebt nach deren Tod nun bei ihren Geschwistern Edmond und Annika. Der Vater lebt mit seiner jungen Geliebten zusammen und kümmert sich nur sporadisch um seine Kinder. Mifti, die in eine dreimal so alte Frau verliebt ist, die sie an ihre Mutter erinnert, zieht im Grunde nur unter Drogen stehend umher und in die Clubs und hat diverse Sexerlebnisse. Sie treibt zusammen mit ihrer AIDS-kranken Freundin Ophelia dahin und reflektiert ihr Dasein. Ein Leben das nur noch aus Schulverweigerung, Drogenkonsum, Sex und Reflexionen besteht.

Vom Inhalt her erinnert das Buch, das als großer Wurf der deutschen Literatur gehandelt wird, stellenweise stark an Bret Easton Ellis (vor allem der Aspekt der Wohlstandsverwahrlosung und Orientierungslosigkeit), Henry Miller (in punkto existenzialistische Reflexion) und an Michel Houellebecq, der auch viel traurigen Sex beschreibt.
Eine Stärke des Romans ist, wie er pointiert Stimmungen und Philosophie verdichtet: so z. B. auf Seite 48 an der Stelle wo Mifti in Bezug auf ihren Liebeskummer einen Rat haben will und Ophelia nur trocken bemerkt: "Aber Mifti, du weißt schon alles, und es hat doch eh keinen Sinn, weil du verliebt und irrational bist".
Eine Gefahr des Buches erkennt Hegemann selbst: direkt auf Seite 9 schreibt sie: "Früher war das alles so schön pubertär hingerotzt und jetzt ist es angestrengte Literatur". Eine Gratwanderung, die sie nicht immer einhalten kann. Sicher, gerade die Szenen im Drogenrausch sind gut geschrieben. Je stärker der Rausch der Protagonistin, desto flirrender die Sätze und sprunghafter die Szenen. Der Leser erlebt stellvertretend den Rausch mit. Der Verzicht auf eine Handlung und eine stringente Dramaturgie, der Verzicht auf eine erkennbare Struktur, der offene Anfang und das offene Ende des Romans und auch der Wechsel der Erzählarten (E-Mails, SMS, Dialog, Bewusstseinsstrom) verstärkt das Thema des Buches der Auflösung zwischenmenschlicher Strukturen. Aber gerade in den philosophischen Passagen ist das Buch alles andere als überzeugend und verstärkt nur die, nicht eingestandene, Unreife der Hauptprotagonistin.

Aber wenn die Jugend wirklich so ist, wie im Roman beschrieben, dann "Gute Nacht". Wirklich niemand in diesem Buch ist in der Lage, willig oder gar fähig eine funktionierende zwischenmenschliche Verbindung herzustellen. Und gerade in dieser Hinsicht ist die Kritik an der Psychologie vor allem auf Seite 178 erschreckend. Das ganze Verhalten der Protagonistin Mifti ist im Grunde ein Schrei nach Liebe und Hilfe, aber sie lehnt alle Situationen und Personen ab, die ihr genau diese bieten könnten. Sie lässt sich nicht nur nicht auf die Psychologie und Therapie ein, sondern bricht auch mit ihrer Familie, als die sich endlich aufrafft ihr helfen zu wollen. Vielleicht liegt das daran, dass sich Mifti in den anderen sieht und es nicht ertragen kann. Aber in ihrem ganzen selbstmitleidigen, drogenumnebelten Verhalten ist sie sehr nervig und verlangt nicht nur den anderen Protagonisten, sondern auch dem Leser einiges ab. Und obwohl sie als Kind von ihrer Mutter vernachlässigt und misshandelt worden ist, liebt sie eine viel ältere Frau, die sie an ihre Mutter erinnert. Zum Schluss wird sie auch von der weggestoßen. Das Ende des Buches ist mit dem Brief der Mutter an die Tochter ein echter Schock.

Ist es Popliteratur, wenn viele Zitate darin stehen? Das bringt eine gewisse Gefahr mit sich. Jetzt gerade ist das Buch am Puls der Zeit, aber in ein paar Jahren kann es schnell vergessen sein, weil die intertextuellen und intermedialen Bezüge kaum noch einzuordnen sind. Jetzt ist es noch aufregend, aber ein Klassiker wird es wohl kaum werden.

Das Buch wird dem Hype nicht gerecht. Sicher, es entfaltet einen Sog und ist interessant zu lesen und für eine 17-jährige Autorin, jetzt komme ich doch auf das Alter zurück, beachtlich. Aber es bietet nichts wirklich Neues. Ein Klassiker wird es wohl nicht werden.

© Jons Marek Schiemann 2010


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