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Stephen
King - Das Mädchen Ullstein Verlag
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Haben Sie in Ihrer Familie auch jemand, der Sie jeden Sonntag Nachmittag zum Spazieren gehen aus dem Haus scheucht? Jemand, der meint, dass der Höhepunkt der Woche darin besteht, bei Wind und Wetter durch den Wald zu wandern? Waren Ihre dezenten Hinweise bislang vergeblich, dass schon die alten Geschichten von "Rotkäppchen" und "Hänsel und Gretel" belegen, dass es da draußen im Wald g e f ä h r l i c h ist? Sie sollten dieser Person Stephen Kings Das Mädchen schenken - es könnte zu Ihrer sonntäglichen Ruhe beitragen.
Nur kurz zum Pinkeln verlässt die neunjährige Trisha den sicheren Wanderweg - und dann beginnt das Unheil. Eben waren noch Stimmen zu hören, zog sich ein Pfad breit dahin und jetzt zerreißen tote Aststümpfe das T-Shirt, sirren Mücken, schlängeln sich schwarze Nattern im Laub und jeder Schritt führt Trisha weiter vom sicheren Weg fort.
Völlig unwichtig, dass jede Neunjährige, die Sie kennen, sich in dieser Situation heulend auf dem nächsten Baumstumpf niederließe, um der Rettung entgegenzuwarten... Stephen Kings Trisha stapft, fällt, rennt zielstrebig weiter ins Unglück. Macht nichts, dass die Gedankenwelt dieser Trisha häufig eher der einer Erwachsenen als einer Neunjährigen gleicht und dass Sie als Leser ganz nebenbei mehr über Baseball erfahren, als Sie jemals wissen wollten. Nicht schlimm, dass Stephen King sich nicht entscheiden konnte, ob er mit Das Mädchen auf die realistische Geschichte vom verzweifelten Herumirren-im-Walde abzielte oder ob er lieber einen für ihn typischeren Horrorroman schreiben wollte, in der das Unfassbare auf das unschuldige Opfer lauert. Und was schert es Sie, dass ein guter Lektor diese dreihundert Seiten auf eine gediegene Novelle zusammengestrichen hätte?
Wichtig ist für Sie, dass Stephen King seine Botschaft vermittelt: Wer in den Wald geht, ist lediglich drei Schritte davon entfernt, unvorhergesehen in Wespennester zu stolpern, von Hunger gequält Hänge hinabzustürzen, mückengepeinigt in tiefen Sumpflöchern die Schuhe zu verlieren und sich blutig im Gestrüpp zu verheddern. Und dies vermittelt er sehr eindringlich. Verschenken Sie daher das Buch an Ihren angeheirateten Waldläufer im Kombipack mit Taschenmesser, Heftpflaster, Kompass und Mückenspray.
Selbst hartnäckige Fälle von ewiger Wanderlust werden diese Botschaft verstehen und Sie von nun an sonntags mehr Zeit für sich haben. Und die könnten Sie damit verbringen, eines der besseren Bücher von Stephen King zu lesen: Beispielsweise seine Novellensammlung Frühling, Sommer, Herbst und Tod, in der er mit der Erzählung "Pin Up" beweist, wie gut er auch dann ist, wenn er auf das Mysteriöse verzichtet. Das Mädchen jedenfalls müssen Sie nicht lesen. Denn dass es da draußen im Walde gefährlich ist, das wissen Sie schon.
© Gertrud Jacobi 2001
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