Jeff Lemire: Essex County - Geschichten vom Land - Rezension Literaturmagazin Lettern.de Jeff Lemire: Essex County - Geschichten vom Land

Edition 52
Hardcover
, 112 Seiten
11
,00 €
ISBN: 3-935-22975-5
 

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Heilung durch Fantasie

"Geschichten vom Land" ist der erste Band einer mehrfach ausgezeichneten Trilogie von Graphic Novels eines der wichtigsten Nachwuchskünstler der amerikanischen Comicszene. Jeff Lemire erzählt sehr sensibel von einer Freundschaft, Trauer, der Macht der Fantasie und der wahren Stärke von Superhelden.

Der zehnjährige Lester ist erst kürzlich Waise geworden und lebt nun bei seinem Onkel Kenny auf dem Lande. Sonderlich gut kommen die beiden allerdings nicht miteinander aus. Lester versetzt sich in die Rolle eines Superhelden und kapselt sich von seiner Umwelt ziemlich ab. Einzig der ehemalige professionelle Eishockeyspieler und jetzige Tankstellenbesitzer Jimmy findet Zugang zu dem Jungen. Aber auch Jimmy flüchtet in einen Traum.

Der gänzlich in schwarz-weiß gehaltene Band ist in einem harten, expressionistisch anmutenden Strich gehalten. Es mag manche Leser abschrecken, weil die Zeichnungen dadurch nicht gefällig wirken, sondern die Augen des Betrachters herausfordern könnten. Doch das wäre absolut ein Versäumnis. Denn nicht nur die Augen werden gefordert, sondern auch der Verstand und das Herz. Eine Graphic Novel sozusagen für den ganzen Körper. Der Stil passt hervorragend zu der Geschichte. Ein wirrer Strich, der Details fast verschwinden lässt, Mimik herausstellt und wenig gerade Linien findet, ist ein sehr passendes grafisches Element für den inneren Aufruhr der Protagonisten.

Das Innenleben aller Figuren ist von Schmerz und Verletzungen geprägt. Dabei braucht der Autor und Zeichner Lemire kaum Worte. Allein ein solches Panel, wo Onkel Kenny in der Schwärze seiner Scheune am großen Traktor steht, kündigt von solch tiefer Hilflosigkeit und Trauer, wie andere Autoren es nicht auf zehn Seiten schaffen würden. Generell wird durch den Panelaufbau die hohe Emotionalität vermittelt. Das fängt schon mit dem Beginn an. Lester steht in einer kargen, nur skizzierten Umgebung in einer Superheldenverkleidung und stiert in die Leere. Nachdem er die Augen geschlossen hat, beginnt er zu schweben und fliegt als Superheld davon. Die Stimme seines Onkels holt ihn bald wieder auf den Boden der Tatsachen zurück und entlarvt die Szene als Wunschdenken. Nicht zufällig erinnert diese Szene auch an Supermann, der als Privatperson auf einer Farm aufwuchs. Es wird schon hier deutlich, was auch später weiter ausgearbeitet werden wird, was Superhelden eigentlich bedeuten: Sie sind nicht nur eine Flucht in die Fantasie. Sie sind auch eine Katharsis und kompensieren Ohnmachtsgefühle, indem man sich übermenschliche Kräfte erträumt. Wenn Lester einen imaginierten Sieg über Aliens erfährt, so ist dieser in Wahrheit ein Sieg über den Schmerz und eine Akzeptanz der Situation, in der er sich befindet.

Damit ist "Essex County" vornehmlich eine Geschichte über das Erwachsenwerden. Vieles zu den Figuren wird noch im Unklaren gelassen, so dass man gespannt auf die Fortsetzungen warten wird.

Große Comickunst. Hier geht eine sensibel und intelligent erzählte Geschichte eine wahre Symbiose mit den Zeichnungen ein. Ein Band zum träumen, genießen und nachdenken.

© Jons Marek Schiemann 2010


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