Paolo
Maurensig - Spiegelkanon Aus dem Italienischen von
Irmela Arnsperger
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Es gibt viele Bücher, in denen die Musik und das Verhältnis vom Menschen zur Musik im Mittelpunkt steht. Bereits der Titel Spiegelkanon und die Gestaltung des Schutzumschlages machen es noch vor dem Lesen klar, dass auch in diesem Buch des Italieners Paolo Maurensig, Jahrgang 1943, die Musik eine entscheidende Rolle spielt.
Die Lebensgeschichte von Jenö Verga ist eng mit einem Geschenk seines Vaters, den er jedoch nie kennen gelernt hat, da er nicht aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrte, verknüpft: Eine wertvolle Geige. Jenö erliegt ihrem Zauber, von frühester Kindheit an lernt er versessen Geige und zeigt von Beginn ein außergewöhnliches Talent.
Doch wir wollen nicht vorauseilen, der Leser lernt zunächst die Geige kennen, nicht die Hauptperson. Ein noch unbekannter Mann hat sie auf einer Auktion erworben und bewundert das außergewöhnlich schöne Stück, als auf einmal ein weiterer Mann das Hotelzimmer betritt und versucht, die Geige käuflich zu erwerben. Er erzählt uns von einem ungewöhnlichen Treffen mit Jenö Verga in Wien; erst nach diesem Treffen erfährt er die Lebensgeschichte Vergas.
Wir erfahren die eigentliche Geschichte also als eine Erzählung einer Erzählung. Eine leider nicht besonders geglückte Konstruktion, deren eigentliche Funktion sich dem Leser erst am Ende des Buches offenbart, ohne dabei an Stärke zu gewinnen. Diese Verschachtelung der Handlung wirkt, auch nach ihrer Auflösung, ungeschickt und künstlich.
Mehr Stärke zeigt dagegen die Gestaltung des Charakters Jenö und seiner Biographie. Ergreifend beschreibt Maurensig den Werdegang des begabten Kindes zum verbissenen Jüngling. Schon früh verrennt er sich in eine abgöttische Bewunderung zu einer bekannten Violinistin, die durch ihren Zuspruch Jenös Ehrgeiz weiter anstachelt. Dieser Ehrgeiz ermöglicht ihm schließlich den Eintritt in eine renommierte Musikhochschule, in der er unter den unmenschlich kalten Verhältnissen leidet, dennoch verbissen für die Musik kämpft.
In der Musikhochschule findet Jenö den einzigen Freund seines Lebens, Kuno, den Sohn einer Aristokraten-Familie. Nach Abschluss der musikalischen Prüfungen besucht Jenö seinen Freund und dessen Familie. Während aus einer plötzlich erwachten Konkurrenz zwischen Jenö und Kuno das Verhältnis der beiden immer schlechter wird und schließlich zu Hass ausartet, spielt die Geige Jenös in den Augen von Kunos Vater eine besondere Rolle; dieses Interesse lässt Jenö zu der Überzeugung kommen, in einem besonderen Verhältnis zur Familie Kunos zu stehen. Ohne, dass der Leser völlige Klarheit über die Familienverhältnisse bekommt, verlässt Jenö Kuno und seine Familie wieder und verfällt dem Elend und der Lethargie.
Kurz vor Schluss rückt noch einmal kurz die Politik in den Vordergrund; der Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland geht auch an Jenö nicht spurlos vorüber, allerdings auch nur, weil sie direkt eine von ihm bewunderte jüdische Musikerin bedroht. Ansonsten tritt zu keinem Zeitpunkt des Romans die Politik in den Vordergrund.
Es ist Maurensig ausgezeichnet gelungen, die politischen Verhältnisse nur subtil anklingen zu lassen, in genau dem Maße wie sie einen Menschen wie Jenö, der nur seine Musik im Kopf hat, betreffen: Er merkt wohl, dass sich der "offizielle Geschmack" verändert, ebenfalls merkt er, dass einige der Schüler an der Musikhochschule abgeholt werden, doch das interessiert ihn nicht weiter. Nur der Gedanke, dass die Streichmusik eines Tages nur zur Erheiterung von Soldaten dienen könnte, ansonsten dumpfe Blasmusik das musikalische Tagesgeschehen bestimmen könnte, macht ihm Angst. Ein genial konstruierter Gedankengang, der die Grundhaltung der Hauptperson auf wunderbar einfache Weise ersichtlich macht.
Am Ende des Romans werden wir leider wieder plötzlich auf die ungeschickte Rahmenhandlung verwiesen. Völlig aus dem Zusammenhang gerissen erweist sich schließlich der Käufer der Geige als ein lange verschollener Onkel Kunos, der plötzlich nach Hause zurückkehrt, während der Mann, dem Jenö seine Geschichte erzählt hat, herausfinden muss, dass er nur durch seltsame Umstände von dieser Geschichte gehört hat.
Der Roman bekommt so noch schnell einen Stich ins Fantastische, was durchaus zu gefallen weiß, wobei auch hier die Frage nach dem Sinn eines solchen literarischen Mittels im Raume stehen bleibt.
Am Ende bleibt eine beeindruckende Haupthandlung mit einigen exzellent gezeichneten Hauptpersonen, die das Buch zu einem lohnenden Erlebnis machen. Die Rahmenhandlung dagegen gehört leider zu den weniger erfreulichen Leseerfahrungen der letzten Monate.
© Till Weingärtner 2000
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