Irène Némirovsky: Die Familie Hardelot - Rezension Literaturmagazin Lettern.de Irène Némirovsky: Die Familie Hardelot

Albrecht Knaus Verlag
Hardcover
, 260 Seiten
19
,99 €
ISBN: 3-551-79190-2
 

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Eine Familiengeschichte und Sittengemälde

Irène Nemirovsky wurde erst spät wieder in Deutschland entdeckt. Nach der Veröffentlichung ihres Meisterwerkes Suite française 2004, kommen aufgrund des Erfolges auch andere Romane von dieser Ausnahmeschriftstellerin posthum auf den Markt.

Irene Nemirovsky wurde 1903 in Kiew in eine jüdische Familie geboren, die nach der Oktoberrevolution 1917 nach Frankreich flüchtete. Dort konnte der Vater, ein Bankier, sein Vermögen zurück erlangen und seiner Tochter ein luxuriöses Leben ermöglichen. Schon während des Literaturstudiums erschienen erste literarische Arbeiten von Nemirovsky. Schnell wurde sie zu einem Star der Literaturszene. Nach dem Einmarsch der Nazis flüchtete sie in die Provinz, wurde aber 1942 verhaftet und wenig später in Auschwitz ermordet. Zum Glück für die literarische Welt hatten ihre Töchter das unvollendete Manuskript zu der "Suite française" gerettet. Aber auch die anderen Werke von ihr können mit diesem großartigen Buch mithalten.

"Die Familie Hardelot" gehört dazu. Von der ersten Seite an ist der Leser von diesem feinen sezierenden Blick auf das französische Bürgertum gefesselt. Der junge Pierre Hardelot ist mit der feisten aber reichen Simone verlobt, obwohl er in die nicht ganz standesgemäße Agnes verliebt ist, die diese Liebe erwidert. Trotz einiger Widerstände gelingt es ihnen, ihre Liebe gegen die Standesdünkel der Familie durchzusetzen. Der Ausbruch des ersten Weltkrieges versetzt dem französischen Bürgertum aber einen herben Schlag. Doch sollte dieses nicht die einzige Katastrophe bleiben.

Nemirovsky hat einen so feinen sezierenden Blick auf das französische Bürgertum wie später nur noch der Regisseur Luis Bunuel in seinen Filmen (Der diskrete Charme der Bourgeoisie). Dabei wird keine Szene auf die Spitze getrieben, um die Personen in einer grotesken Situation lächerlich zu machen. Vielmehr entlarvt eine feine Ironie die Charaktere und schildert mehr Situationen, welche die Erstarrung und die sinnlosen Wiederholungen und Rituale entblößt. Schon der Anfang des Romans ist verwirrend, ob die Autorin hier wirklich von zwei Familien oder von zwei Staaten spricht. So groß ist der Standesdünkel und es wird geschickt die Familie Hardelot als typische Bürgerfamilie eingeführt. Der erste große Bruch durch den Ersten Weltkrieg prügelt auch das Bürgertum und macht allzu deutlich, wie ausgehöhlt sie sind und dass sie unfähig für Veränderungen sind. Sie beharren und sind restaurativ ausgerichtet. Halbwegs ertragen sie die Weltwirtschaftskrise, um dann den Zweiten Weltkrieg zu erleiden. Hier kommt eine unerwartete Wendung, indem Némirovsky gerade die vorgehenden Schwächen der Charaktere jetzt als Stärke auslegt. Die anerzogenen Eigenschaften der Figuren führen sie in Zeiten der Not zur Größe und die Charaktere werden endlich gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Das Bürgertum wird also nicht per se verdammt. Es zählt, wie man damit umgeht und welche Ziele man verfolgt. Dieses Familien- und Sittenporträt ist sehr einprägsam. Leider sind die inhaltlichen und zeitlichen Sprünge zwischen den Kapiteln manchmal etwas groß geraten, was einen zügigen Lesefluss unterbricht. Aber wenn man daran denkt, dass in dem Roman auch schon die Besatzungszeit geschildert wird, so machen einen diese Sprünge beklommen. Als ob Némirovsky wusste, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb.

© Jons Marek Schiemann 2010


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