Stewart O'Nan: alle, alle lieben dich Rowohlt Verlag
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Sommer der Ratlosigkeit
Der neue Roman von Stewart O'Nan "Alle, alle lieben dich" ähnelt auf den ersten Blick seinem Erstling "Engel im Schnee". Bei genauerer Betrachtung werden die Unterschiede aber deutlich. Während in "Engel im Schnee" das Zerbrechen einer Familie anhand eines Mordes geschildert wird, liegt der Augenmerk in "Alle, alle lieben dich" auf den psychischen Verletzungen in einem Vermisstenfall.
Die achtzehnjährige Kim Larsen verlebt einen der schönsten Sommer ihres Lebens: Die Schule ist vorbei und es sind noch ein paar Wochen bis zum Beginn des Studiums am College. Die Zeit verbringt sie mit ihren Freunden und arbeitet nebenbei an einer Tankstelle. An einem Mittag schwimmt sie mit ihren Freunden im Fluss und genießt die Sonne. Schließlich macht sie sich lustlos auf den Weg zur Arbeit. Dort kommt sie allerdings nie an. Nachdem jedem klar ist, das Kim verschwunden ist, setzen die Eltern alle Hebel in Bewegung, um ihre Tochter wiederzufinden. Suchtrupps werden zusammengestellt, Flugblätter verteilt, Medien eingeschaltet und kleinliche Kämpfe mit der Polizei ausgetragen, weil die Eltern sich durch die Polizei nicht ernst genommen fühlen. Aber Kim bleibt verschwunden.
Konsequent vermeidet O'Nan das Krimigenre. Sicher, Stilelemente wie Verhöre, Beweismittelsicherstellung und Suchaktionen kommen vor, bleiben aber eher zweitrangig. Der Hauptaugenmerk liegt auf den psychischen Reaktionen der Hinterbliebenen: Vom Tatendrang der Mutter, der Hilflosigkeit des Vaters, der Abschottung der Schwester, der Hilf- und Ratlosigkeit der Freunde. Aber auch der tröstende Zuspruch der Gemeinde und von Fremden wird deutlich gemacht. Geschickt und schleichend wird im Roman geschildert, wie sich die Protagonisten und im Laufe der Zeit deren Reaktionen ändern. Durch das Verschwinden werden auch die Geheimnisse deutlich. Nicht nur die, die nach außen verheimlicht werden, sondern auch die, die man sich selbst nicht eingestehen will. Mit klaren, sachlichen Sätzen seziert O'Nan die "Illusion der Normalität" (O'Nan) und zeigt auf, dass es keine Durchschnittsfamilie gibt. Und macht damit wieder deutlich, dass es zur Zeit kaum einen Autor gibt, der diese Meisterschaft beherrscht. Wie er es mit nüchtern sachlichen Sätzen schafft, den Leser zu Tränen zu rühren, ist unnachahmlich.
Ein neues Meisterwerk von einem der besten lebenden Autoren Amerikas.
© Jons Marek Schiemann 2009
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