Pierre Pèju - Die kleine Kartäuserin - Rezension Lettern.de Pierre Pèju - Die kleine Kartäuserin

Piper Verlag
Hardcover
, 190 Seiten
16
,90 €
ISBN: 3-492-04619-3

 

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Ich lese, weil ich andere "Wirklichkeiten" meiner realen hinzufügen möchte, weil ich neugierig bin, weil ich mich in einem Buch wieder finden will... Die Buchregale meiner Freundinnen ziehen mich magisch an.
"Die kleine Kartäuserin" entdeckte ich im Buchregal meiner Tochter. Der Name des Autors war mir unbekannt, aber der Titel machte mich sofort neugierig, denn ich wusste, dass der Kartäuserorden ein Schweigeorden ist.

Die Stadt, in der die kleine Kartäuserin lebt, liegt in den Falten des Grande Chartreuse. Es geht in diesem, in doppeltem Sinn, merkwürdigen Buch um Leben und Tod, und um Einsamkeit.
Der Autor erzählt kunstvoll ineinander verschränkt von Eva, dem kleinen Mädchen, das sich nie auf seine Mutter Thérèse verlassen kann, und dem Buchhändler Etienne Vollard. Der Buchhändler überfährt das kleine Mädchen, das plötzlich vor sein Auto rennt. Vollard erleidet einen Schock. Er irrt eine Nacht lang im Schnee des Grande Chartreuse herum.
Am nächsten Morgen fährt er zum Krankenhaus, in das Eva eingeliefert worden ist. Dort trifft er auf Thérèse, die Mutter. Sie kann keine Bindungen eingehen und ist dauernd auf der Flucht. Sie hält das Warten darauf, dass ihre Tochter aus dem Koma erwacht, nicht aus.
"Die kleine Kartäuserin" ist auch ein Buch über die Liebe zu Büchern und die Wirkungskraft von geschriebenen und aneinander gereihten Worten. "Wort und Sein" heißt die kleine Buchhandlung Vollards.

"Sie müssen jetzt mit ihm sprechen, mit diesem kleinen Mädchen", sagt sie [die Krankenschwester] zu dem seltsamen Paar, "Nicht wahr, Eva, es stimmt doch, du hörst uns, du wirst uns doch hören? Eva?"

Aber diese Mutter kann nicht mit ihrem Kind sprechen, sie macht sich aus dem Staub.

Das Buch beginnt mit einem Erzähler, der sich dann aber zurückzieht. Im zweiten Teil taucht er wieder auf und erzählt, was er über den Buchhändler Etienne Vollard weiß. Er erinnert sich, dass er eine Weile mit ihm in einer Klasse war. Der Buchhändler war ein einsames Kind, eine Waise und schon als Kind hatte er immer ein Buch bei sich. Bücher halfen ihm über das Leben hinweg, sie halfen ihm die schrecklichen Bilder der Vergangenheit zu vergessen. Der Erzähler berichtet voller Scham, wie er und seine Klassenkameraden Etienne gequält haben. Ihre Wege kreuzten sich ein zweites Mal 1968 während der Mai-Unruhen in Paris. Jetzt hat es den Erzähler in die Stadt unter dem Chartreuse verschlagen. Er hat "Wort und Sein" entdeckt und ist Etienne Vollard noch einmal begegnet. Der Erzähler gibt sich nicht zu erkennen, die Scham ist zu groß.

Teil drei beginnt mit dem Kapitel "Schlaflosigkeit". Sie quält Vollard seit dem Unfall.

In diesen unermesslichen durchwachten Nächten war da immer zuerst die "komische Stimme" zu hören, eine Stimme, die manchmal tief, manchmal fast schrill klang und die im Dunkeln etwas schrie wie: "Nicht mich! Nicht doch!" Es war nicht wirklich seine, Vollards, Stimme, aber doch eine erstaunlich vertraute Stimme, vielleicht die eines kleinen Jungen...

Der Buchhändler besucht die kleine Kartäuserin im Krankenhaus. Er flüstert ihr unermüdlich die schönsten Geschichten ins Ohr. Und es geschieht ein Wunder: Eva erwacht aus dem Koma.

Thérèse tat ihr Bestes, und in den folgenden Tagen zwang sie sich, im Krankenhaus zu bleiben und sich um Eva zu kümmern.
Man erklärte Thérèse: "Diesmal ist Ihre Tochter wirklich aus dem Koma erwacht. Stimulieren Sie sie, rufen sie konkrete Erinnerungen in ihr wach, glückliche Erinnerungen. Sie muss neue Anhaltspunkte finden, die Menschen und die Dinge wieder erkennen..."
Panik überfiel Thérèse...

Man erklärt ihr, dass ihr Kind behindert bleiben wird. Die kleine Kartäuserin wird nicht sprechen können, vielleicht wird sie etwas verstehen und sich ein wenig verständlich machen können.

Das überfordert diese Mutter. Sie nimmt eine Arbeit in einer weit entfernten Stadt an. Eva kommt erst einmal in eine Rehaklinik. Auch der Buchhändler will das kleine Mädchen nicht wieder sehen, er will nichts anderes, als vor seinen Erinnerungen in den Schutz seiner Bücher abtauchen. Es kommt anders: Die Mutter überträgt ihm ihre Aufgabe, sich um das Kind zu kümmern.

Ohne nachzudenken, legte Thérèse plötzlich ihre beiden winzigen Hände auf die des Buchhändlers, das riesige Knochenpaket voller bräunlicher Flecken und roter Haare, klammerte sich daran fest wie an einem von Flechten bedeckten Felsen. Und Vollard ließ sie gewähren. Mit Männern brachte Thérèse solch automatenhaften Wagemut zuwege. Dieser Wagemut fiel ihr um so leichter, als es ihr im Grunde völlig egal war. Seit dem frühen Ende ihrer Kindheit wusste Thérèse, dass sie mit Männern fast alles machen konnte, was sie wollte. Bloß hatte sie absolut keine Ahnung, was sie eigentlich wollte.
Während sie so an diesen rätselhaften Händen hing, wiederholte die junge Frau etwas außer Atem vorsichtshalber, wo die Einrichtung lag, in der Eva sich aufhielt. Sie erklärte auch, wo sich das ferne Gewerbegebiet mit den Einkaufszentren befand, in dem sie ab sofort arbeiten würde, als Verkäuferin, Kellnerin oder Kassiererin.
Vollard spürte Thérèses Finger leicht auf seinen Händen liegen, aber er rührte sich kein bisschen, so wie man im Sommer einen Schmetterling kurz auf seiner Schulter sitzen lässt, auf seiner Wange. Der Sommer stand bevor. Und der Schmetterling machte sich aus dem Staub.

Etienne Vollard besucht das kleine Mädchen in der Rehaklinik und flüchtet vor ihrem Blick, ein verlorener Blick, sehr fern, sehr weit oben, im Schnee, im Blau... Sie war da. Lebendig. Versteinert.
Vergeblichkeit all dessen, was er noch tun oder sagen konnte. Vergeblichkeit der Vergeblichkeiten.

Panik ergreift ihn. Er flüchtet in den Chartreuse und begegnet dort einer Bungee-Springer Gruppe, überwindet seine Angst und springt.
Das gibt Vollard den Mut, wieder in die Rehaklinik zu fahren. Er macht mit Eva kleine Spaziergänge und lässt sie Tiere, Pflanzen und Steine berühren. Sie reagiert nicht.
Eva wurde das Kind, das er nie gehabt hatte, wurde das Kind, das er gewesen war – und dann wird das Kind immer weniger und Vollard wird bewusst, dass es sterben wird. Der Buchhändler macht sich auf die Suche nach der flüchtigen Mutter.

Die Buchhandlung "Wort und Sein" geht durch einen Kurzschluss in Flammen auf. Kein Buch ist zu retten. Ein Grund mehr, sich auf den Weg zu machen, die Mutter der Kleinen zu suchen. Er taucht in ein Gewerbegebiet, in eine andere Möglichkeit des Seins, jenseits der Worte. Die Mutter findet ihn. Zwei Einsame begegnen einander und klammern sich aneinander.

Es war so lange her, dass zum letzten Mal ein solcher sinnlicher Stromschlag so schnell von seiner Haut in seinen Bauch gefahren war... Später rissen sie sich voneinander los, standen ohne ein Wort und ohne Wut auf und gingen in verschiedene Richtungen auseinander.
Jedem seine Wüste. Jedem sein eigener Schnee.

"Wort und Sein" gibt es nicht mehr, die kleine Kartäuserin ist tot. Welchen Sinn hat Vollards Leben noch, ohne Bücher, ohne ein Ohr, in das er seine Worte flüstern kann? Ohne es zu planen fährt er in den Chartreuse, zum Bungee-Sprung Platz und springt – ohne Bungee.

Sein letzter Schritt in den brüllenden Abgrund all dessen, was je geschrieben, was je zu lesen gegeben wurde.
Sein erster Schritt in das Vergessen der Bücher.

"Die kleine Kartäuserin" ist ein Buch, das von Verletzungen erzählt, realen und psychischen, des Kindes, der Mutter, des Buchhändlers und auch des Erzählers, der nicht den Mut hatte, gegen die Meinung und Bosheit der anderen anzugehen. Es ist ein Buch über Leben und Tod und es ist ein Lobgesang auf die Literatur.

Der Etienne Vollard machte keine Konzessionen, er stand zu sich und zu seiner Angst. Konnte er sie vielleicht nur mit Hilfe der Bücher ertragen? Am Ende überwand er seine Angst und sprang in den Tod, der uns allen sicher ist, früher oder später.

Fazit: Mit Hilfe der Bücher können Leben und Tod (der anderen) ertragen werden. Das kann ich bestätigen!

Pierre Péju, 1946 geboren, ist Dozent für Philosophie, Essayist und Autor mehrerer Biographien. "Die kleine Kartäuserin" ist sein erster Roman, der auf deutsch erscheint, in Frankreich einer der größten Bucherfolge der letzten Jahre.

© Elke Tegtmeyer, 2008


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