Arno
Surminski - Sommer vierundvierzig oder Wie lange fährt man von Deutschland nach Ostpreußen? Ullstein Verlag
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Menschen mit zu unausgewogenem Geschichtsbild werden wahrscheinlich beim Titel dieses Buches an großdeutschen Revisionismus denken und vermuten, dass es sich um einen Tatsachen verklärenden Roman handelt. Mit dieser Vermutung liegt man jedoch falsch.
Das Einzige, was in diesem Roman verklärt wird, ist Ostpreußen, insbesondere die Gegend um Königsberg mit dem Kurischen Haff und der Kurischen Nehrung; was verklärt wird, ist der besondere Reiz einer Natur, die außer Sand, Sand und Meer nur noch einzelne Elche und Bernstein zu bieten hat; was verklärt wird, ist der besondere Reiz der Ödnis.
In eine stille, manchmal sogar melancholische, immer jedoch sehr ruhige Atmosphäre, bettet Arno Surminski die tragische Liebesgeschichte von Hermann Kallweit, einem Soldaten auf Urlaub, und Magdalena Rusch, einer Blumenverkäuferin, die ebenfalls an der Nehrung Urlaub macht. Nach zwei Jahren Dienst an Russland- und Italienfront erhält Hermann endlich Urlaub und nutzt ihn zur Heimfahrt nach Königsberg.
Während der Fahrt resümiert er die beiden vergangenen Jahre und muss zu seinem Erschrecken und Erstaunen feststellen, dass es da außer Krieg, Leid, gestorbenen Kameraden und seinem vermissten großen Bruder nicht viel gab. Besonders zu denken gibt ihm die Tatsache, dass er zwar weiß, wie man Granaten werfen muss, oder wie man besonders effizient tötet, er jedoch im Bereich der Liebe völlig unerfahren ist und noch nie mit einem Mädchen zusammen war. Wie auch? Als Soldat in Hitlers Armee kommt man zwar herum in Europa, für weibliche Wesen bleibt aber zwangsläufig wenig Raum. "Zu den schönen Dingen im Leben bist du immer zu spät gekommen", stellt Hermann resigniert fest und hofft darauf, dass sich dies ändert.
In Königsberg bietet sich seinen Augen zwar überall Propaganda, hinterlassen hat der Krieg aber sonst keine größeren Spuren, Ruinen beispielsweise sind nirgends zu erblicken. Zuhause angekommen, erfährt er von einer alten Nachbarin, dass seine Eltern wie jeden Sommer an die Kurische Nehrung gefahren sind. Er folgt ihnen dorthin. Auch hier kann er nur feststellen, dass der Krieg noch keine Spuren hinterlassen hat, abgesehen von der Kriegsbegeisterung des sechzehnjährigen Erwin, dem Sohn des Fischerpaares, das Hermanns Eltern die Ferienwohnung stellt.
Auf einer seiner Fahrradtouren begegnet Hermann Magdalena, die die Einsamkeit des Strands zum Nacktbaden nutzt. Eigentlich wollte er nach Bernstein suchen... So aber machen sich die beiden schließlich gemeinsam auf den Heimweg und halten dabei dann Ausschau nach dem "Gold der Ostsee". Sie verabreden sich für den nächsten Tag zum Baden und Wandern. Sie stellt fest, dass sie sich wahrscheinlich nie näher gekommen wären, wenn er in Uniform an besagtem Tag am Strand gewesen wäre. Im Laufe des nächsten Tages kommen sich die beiden immer näher, was schließlich seinen Höhepunkt darin findet, dass Hermann und Magdalena miteinander schlafen, was nur sehr andeutungsweise, dadurch aber unaufdringlich, beschrieben wird. Beide verleben schöne gemeinsame Tage, doch der Tag der Trennung rückt mit dem Verstreichen von Hermanns Urlaub immer näher.
Ein viel einschneidendes Ereignis kommt jedoch "von oben": Die Bombenlast eines riesigen Geschwaders britischer Bomber entlädt sich über Königsberg, der östlichsten Großstadt Deutschlands, die bisher davon verschont geblieben war, bombardiert zu werden. In dem anschließenden Flächenbrand geht fast die gesamte Innenstadt zugrunde. Um überprüfen zu können, ob die heimische Wohnung getroffen wurde, begeben sich Hermanns Eltern nach Königsberg. Hermann folgt nach und im Chaos dieser Tage verliert er Magdalena, ohne sich richtig von ihr verabschiedet zu haben. Seine Nachforschungen laufen ins Leere, da eine Magdalena Rusch in Königsberg nicht existiert. Sie hatte sich aus Gründen persönlicher Sicherheit und Misstrauen vor Uniformen einen falschen Namen gegeben.
Fünfzig Jahre später fährt Hermann wieder nach Königsberg, das nun Kaliningrad heißt und sich in sozialistischer Klotz- und Betonarchitektur präsentiert. Per Zufall trifft er Erwin, den Fischersohn, wieder, der im Rückblick seine damalige Kriegsbegeisterung überhaupt nicht mehr verstehen kann. Beide ziehen eine abschließende Bilanz ihres bisherigen Lebens und erzählen einander, wie es ihnen nach dem Krieg ergangen ist.
Sommer vierundvierzig ist ein sehr ruhiges und atmosphärisch äußerst dichtes Buch, das glaubwürdige Charaktere hat und unbedingt empfohlen werden kann. Es lässt einen die damalige Situation (Flucht und Vertreibung) nachvollziehen und besser verstehen, ohne dabei jedoch in irgendeiner Form politisch oder aufdringlich zu sein.
© Thilo Wendland 2000
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