Su Tong - Reis - Rezension Lettern.de Su Tong - Reis

Aus dem Chinesischen von Peter Weber-Schäfer
Rowohlt Verlag
288 Seiten
8,95 €
ISBN 3-499-22628-6

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Der chinesische Schriftsteller Su Tong ist dem internationalen Lesepublikum durch seine Erzählung Rote Laterne bekannt, die von Zhang Yimou eindrucksvoll verfilmt wurde. Mit Reis ist nun Su Tongs erster Roman in Deutschland erschienen.

Erzählt wird die Lebensgeschichte von Wulong, der sich als junger Mann in die Stadt aufmacht, um der Hungersnot seines Dorfes zu entkommen. Vom Duft und der Atmosphäre des Reises angezogen, beides übt eine beruhigende Wirkung auf Wulong aus, findet er sich in der Stadt vor der Reishandlung des Besitzers Feng und seiner beiden Töchter Qiyun und Ziyun wieder. Durch seine Gier nach Macht und Sex getrieben, gelingt es ihm bald in die Familie einzudringen und Ziyun, die sich durch die Affäre mit der städtischen Unterweltgröße Meister Lu schon längst den Ruf einer Schlampe eingetragen hat, zu heiraten.

Der Alltag der Familie Feng ist bestimmt von unbeschreiblichem Hass und Gewalt: Ein Mordanschlag gegen den neuen Schwiegersohn wird geplant, doch Besitzer Feng zahlt nicht genug, ihm wird nur der Fuß kaputt geschossen. In ihrem Hass bricht ihm Ziyun noch den anderen Zeh und Besitzer Feng sticht ihm das eine Auge aus, bevor er selber, alt und krank, aus dem Leben scheidet.

Ziyun erträgt es bei Wulong nicht lange und kehrt zu Meister Lu zurück; Wulong zwingt darauf Quiyun, ihn zu heiraten. Nun gehört der Reisladen endgültig ihm. Gleichzeitig gelingt es ihm, Anführer einer Verbrecherbande, der Hafenratten, zu werden, die er mit ungeheurer Brutalität anführt. Wulong genießt seine Machtposition, erinnert er sich doch immer noch, wie er als Bettler an der Tür der Reishandlung saß und die Verachtung der Familie Feng zu spüren bekam. Hier liegen die Wurzeln seines Wunsches nach Rache.

Auch die Kinder von Wulong und Qiyun sind von Gewalt gezeichnet. Früh ermordet ihr Sohn seine eigene Schwester. Als Quittung wird er von seinem Vater zum Krüppel geschlagen. Der Kreislauf der Gewalt findet niemals ein Ende. Gewalt und Beschimpfungen sind Alltag im Hause Feng. Es überrascht kaum, wenn die Schwiegertochter versucht, die ganze Familie zu vergiften und anschließend als Prostituierte in Shanghai arbeitet.

Unwillkürlich fragt man sich, ob Su Tongs Welt nicht zu negativ geschildert ist. Fast alle Charaktere des Buches legen es lediglich darauf an, ihre Umwelt zu demütigen, zu bespucken oder mit dem Inhalt ihres Nachttopfes zu bespritzen. Nach wahrer Liebe oder Freundschaft scheint sich niemand in der Reishandlung zu sehnen, es scheint allen fast Spaß zu machen, an den furchtbaren Verhältnissen zu ersticken. Hieraus resultiert die interessante Konstellation, dass dem Roman fast gänzlich ein Sympathieträger fehlt. Ansatzweise entwickelt man beim Lesen Mitleid mit einigen der geschundenen Frauengestalten, trotzdem steht der Leser bei seiner Reise durch Su Tongs fremde und beängstigende Welt völlig alleine und nur als ratloser Beobachter da.

Wulong entwickelt sich schließlich zur glaubhaften Ausgeburt des Bösen, der lediglich in seinem besonders innigen Verhältnis zu Reis menschliche Züge zeigt. Der Reis wird zum Symbol seiner eigenen Suche nach Zuneigung, für seine Mitmenschen hat er jedoch nur Hassgefühle übrig.

Es ist spannend zu lesen, welche Gemeinheiten sich die Familienmitglieder als nächstes ausdenken. Das Leid, das in Wulongs Welt herrscht, wird in eindrucksvollen Bildern ohne Rücksicht auf die Nerven des Lesers geschildert. Höhepunkte sind hier die Brutalität einer japanischen Besatzungsmacht und die Folterungen von Ziyuns Sohn, der für die Japaner arbeitet und an Wulong Rache nimmt. Fast regt sich hier im Leser Freude über das Leid, das Wulong ertragen muss.

Su Tong ist ein brillanter Erzähler, wenn es ihm gelingt, dem Leser eine seiner Gestalten so verhasst zu machen, dass man sich an ihrem Leid ergötzt und für den Folterknecht fast Dankbarkeit empfindet. Dieses unbeschreibliche Gefühl jagt beim Lesen gleichzeitig wieder Angst ein und regt an, über den Wert der menschlichen Existenz nachzudenken.

© Till Weingärtner 2000


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