Antonio Tabucchi -
Erklärt Pereira dtv Verlag
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„Was der Italiener Antonio Tabucchi…mit seinem Roman
"Erklärt Pereira" an feinsinniger Gespanntheit erzeugt, übertrifft alle
Erwartungen… Eines der schönsten und lesenswertesten Bücher unserer Zeit“
Das kann ich nach meiner atemlosen Lektüre nur bestätigen. Der Roman spielt in Lissabon im Juli und August 1938. Im Nachbarland Spanien tobt der Bürgerkrieg, Franco wird von Mussolini und Hitler unterstützt, in Portugal herrscht das faschistisch-autoritäre Regime António de Oliveira Salazars.
„Erklärt Pereira“ heißt dieser Roman und dieses „Erklärt Pereira“ zieht sich
durch den ganzen Roman, der mit dieser Feststellung beginnt und endet. Der Leser
kann so annehmen, dass der Journalist verhört wird, aber wir erfahren nicht, wer
ihn verhört.
Pereira hat jahrelang als Lokalreporter für eine große Zeitung gearbeitet, jetzt
ist er für die Kulturseite der kleinen Zeitung „Lisboa“ verantwortlich. Er
verkriecht sich in seine, aus dem Verlag ausgelagerte Kulturredaktion, die nur
aus ihm besteht. Er schreibt Nachrufe, übersetzt französische Romane des 19.
Jahrhunderts und druckt sie auf seiner Kulturseite ab. Pereira wähnt sich in
einer absolut sicheren Nische. Er nimmt zwar wahr, was geschieht, aber er
bezieht keine Stellung zu den Geschehnissen. Kultur hat nichts mit Politik zu
tun, meint er.
Pereira ist Witwer und unterhält sich mit dem Foto seiner verstorbenen Frau. Er
ist einsam. Außer dem Pfarrer Don António und dem Freund Professor Silva, dem
Studienkollegen aus Coimbra, gibt es keine ihm nahe stehenden Menschen.
Am 25. Juli 1938 beginnt Pereira, der nicht sehr gesund ist, an den Tod zu
denken. In einer Zeitschrift stößt Pereira auf „einen Artikel, in dem es hieß:
"Aus einer Dissertation, die letzten Monat an der Universität von Lissabon
diskutiert wurde, veröffentlichen wir hier eine Betrachtung über den Tod. Der
Autor heißt Francesco Monteiro Rossi.“
Pereira ruft diesen Rossi in seiner Funktion als Chefredakteur der Kulturseite
der „Lisboa“ an. Mit diesem Anruf kommt Bewegung in sein Leben.
Pereira trifft Monteiro Rossi und macht ihm den Vorschlag für die Kulturseite
der „Lisboa“ Nachrufe zu schreiben, Nachrufe auf Persönlichkeiten, die noch
leben, damit man sie im Falle ihres plötzlichen Todes zur Verfügung habe. Das
ist durchaus praktisch und logisch, denn Pereira denkt: „Diese Stadt stinkt nach
Tod, ganz Europa stinkt nach Tod.“ Er denkt an Dichter wie Mauriac, aber
Monteiro Rossi schlägt García Lorca vor. Lorca war im Sommer 1936 von
Franco-Anhängern erschossen worden. Pereiro wagt es natürlich nicht den
Lorca-Nachruf auf seiner Kulturseite zu veröffentlichen, er veröffentlicht
keinen der Nachrufe, die Monteiro Rossi für ihn schreibt, aber er bezahlt sie.
Pereira traut der Portiersfrau Celeste in der Redaktion nicht über den Weg. Er
hält sie für einen Spitzel der Polizei. In den Cafés gehen Gerüchte um, hört er
das, was in den Zeitungen nicht steht. Pereira flüchtet sich ins Thermalbad von
Bucaco, wo der Freund Silva sich aufhält. Er wollte „nicht an das Böse in der
Welt denken.“ Und dann spricht er doch mit dem Freund darüber, aber auch der
Freund will „das Böse in der Welt“ nicht zur Kenntnis nehmen.
Pereira ist erschöpft und fühlt sich vom Freund nicht verstanden. Er reist
wieder ab. Auf der Rückfahrt kommt Pereira mit einer jüdischen Dame ins
Gespräch. Sie fordert ihn auf etwas zu tun.
„Und was? antwortet Pereira. Nun, sagte Frau Delgado, Sie sind ein Intellektueller, sagen Sie, was in Europa vor sich geht, machen Sie von Ihrer Meinungsfreiheit Gebrauch, mit einem Wort, tun Sie etwas.“
Pereira verspricht der Dame sein Bestes zu tun.
In der Redaktion findet er einen Brief von Monteiro Rossi vor. Er trifft ihn und
wird gebeten einem Cousin eine unauffällige Bleibe zu verschaffen. Spätestens
jetzt muss Pereira doch klar sein, dass Rossi für den Widerstand arbeitet.
Pereira hilft und dann flüchtet er.
Er ruft seinen Arzt an und lässt sich in eine Klinik in Parede überweisen. Am
Abend vor seiner Abreise ist er mit Monteiro Rossi verabredet, trifft aber im
„Café Orchídea“ dessen Freundin Marta. Sie erzählt Pereira, dass Monteiro Rossi
in den Alentejo gereist ist und fürs erste dort auch bleiben wird. Marta sagt
ihm:
„Sie sollten einer der Unsrigen sein… Hören Sie zu, erwiderte er, ich bin
weder einer von euch noch von ihnen, ich ziehe es vor, mein eigener Herr zu
sein, im übrigen weiß ich nicht, wer die Eurigen sind, und will es auch nicht
wissen, ich bin Journalist und beschäftige mich mit Kultur, ich habe gerade eine
Erzählung von Balzac übersetzt, über eure Geschichte will ich lieber nicht auf
dem laufenden sein, ich bin kein Chronist. Marta trank einen Schluck Portwein
und sagte: Wir schreiben keine Chroniken, Doktor Pereira, würden Sie das bitte
begreifen, wir leben die Geschichte.“
Pereira wiederholt noch einmal: „…ich denke nur an mich und an die Kultur, das
ist meine Welt.“
In der Klinik in Parede wird Pereira von Doktor Cardoso betreut. Er spricht mit dem Arzt über die Erzählung „Honorine“ von Balzac, die er ins Portugiesische übersetzt hat und die demnächst auf der Kulturseite der „Lisboa“ abgedruckt wird. Pereira sagt, dass er sich in der Erzählung wieder erkannt habe. „In der Reue? fragt Doktor Cardoso. In gewisser Weise, sagt Pereira…“ Immerhin scheint Pereira jetzt über sein Leben nachzudenken. Die Begegnung mit Monteiro Rossi und Marta hat Pereira verunsichert. Wenn die beiden recht hätten,
„hätte mein Leben keinen Sinn, es hätte keinen Sinn, dass ich in
Coimbra Literatur studiert und immer geglaubt habe, die Literatur sei das
Wichtigste auf der Welt, es hätte keinen Sinn, dass ich den Kulturteil dieser
Abendzeitung leite, in dem ich meine Meinung nicht zum Ausdruck bringen darf und
französische Erzählungen des neunzehnten Jahrhunderts veröffentlichen muss,
nichts hätte mehr Sinn, und das würde ich gern bereuen, als ob ich eine andere
Person wäre und nicht der Pereira, der immer als Journalist gearbeitet hat, als
ob ich etwas verleugnen müsste.“
Unmerklich beginnt Pereira sich zu verwandeln. Er übersetzt „La dernière classe“
von Daudet, obwohl Doktor Cardoso ihm zu bedenken gab, dass man es in Portugal
nicht schätzen würde „Vive la France“ zu lesen. Daudets Erzählung handelt vom
Krieg gegen Deutschland und endet mit dem Satz „Vive la France“. Deutschland ist
der Verbündete Spaniens und Portugals António de Oliveira Salazar schaut auf
General Franco.
„La dernière classe“ von Daudet erscheint in der „Lisboa“. „Die Zensur hatte den
Text stillschweigend durchgehen lassen“. Aber wenig später will der Direktor der
„Lisboa“ Pereira sehen. Der Direktor steht auf Seiten des faschistischen Regimes
und macht Pereira heftige Vorwürfe wegen der Daudet-Erzählung.
Doktor Cordoso kommt nach Lissabon und verabredet sich mit Pereira im „Café
Orchìdea“ und teilt ihm mit, dass er Spanien verlassen wird. Er sagt auch, dass
Pereira sich selbst im Wege steht, bei dem Kampf, der sich in seiner Seele
abspielt. Er empfiehlt ihm „Trauerarbeit“ zu leisten und sich von seinem
vergangenen Leben zu verabschieden.
„Sie müssen in der Gegenwart leben, ein Mann kann nicht leben wie Sie, Doktor Pereira, und nur an die Vergangenheit denken.“
Am Tag darauf taucht Monteiro Rossi bei Pereira auf. Er ist auf der Flucht und
bittet um Unterschlupf. Pereira versteckt ihn und gefälschte Pässe.
Am nächsten Abend dringen drei Männer in Zivil bei Pereiro ein. Sie behaupten
von der Polizei zu sein. Sie suchen jemanden und wollen die Wohnung durchsuchen.
Pereira versucht sie mit vielen Worten abzuwimmeln, ihnen das Eindringen in
seine Wohnung zu verwehren, er wird ins Gesicht geschlagen und schließlich
verrät er Monteiro Rossi und der wird getötet. „Diese Stadt stinkt nach Tod,
ganz Europa stinkt nach Tod.“ Die Jugend, also die Zukunft, ist in Monteiro
Rossi ermordet worden. Da endlich begreift Pereira und trifft seine
Entscheidung.
Er verlässt seine Wohnung, ruft aus einem Café Doktor Cordoso an und bittet ihn
um einen Gefallen. Pereira wird über diesen Mord in seiner Wohnung schreiben und
das faschistisch-autoritäre Regime Salazars anprangern. Cordoso soll als hohes
Tier der Zensurbehörde den Artikel genehmigen. Pereira geht nach Hause, in seine
Wohnung in der Rua Saudade und schreibt den Artikel. Er unterschreibt ihn mit
Pereira; keinen seiner Artikel hat er bis jetzt mit seinem Namen unterzeichnet.
Er bringt den Artikel in die Druckerei. Bevor der Schwindel aufgedeckt wird, ist
die Zeitung ausgeliefert.
Pereira ist ein anderer geworden. Endlich hat er eine Überzeugung und bezieht er
Stellung. Er geht zurück in seine Wohnung, packt einen kleinen Koffer, nimmt
einen der falschen Pässe. Pereira wird jetzt Francois Baudin heißen.
Es war besser, wenn er sich beeilte, die „Lisboa“ würde bald erscheinen, und er hatte keine Zeit zu verlieren, erklärt Pereira.“
Der Autor hat der 10. (!) Auflage seines Romans eine Nachbemerkung angefügt. Daraus folgere ich, dass Pereira die Flucht gelang und er 1974 nach dem Sturz des Salazar-Regimes nach Lissabon zurückkehrte. Tabucchi hat ihm mit diesem Roman ein Denkmal gesetzt.
Ich sagte es schon eingangs, ich habe das Buch atemlos gelesen. Einer der Gründe, warum ich lese, ist die Konfrontation mit mir selber. Die meisten von uns sind Pereira, sind zu feige oder desinteressiert Stellung zu beziehen, sich für eine Sache stark zu machen. Wir wollen unser kleines egoistisches Leben möglichst ungestört leben. Dass das Leben uns aufrüttelt, uns konfrontiert, bewirkt Wandlung. Zum Prozess der Wandlung gehört das Bewusstwerden, für manchen auch die Erkenntnis, falsch gelebt zu haben. Wir können uns jederzeit für ein anders Leben entscheiden. Das wäre Auferstehung mitten im Leben.
© Elke Tegtmeyer 2007
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