Tomek Tryzna - Fräulein Niemand

btb Verlag 
366 Seiten, broschiert
9,50 € 
ISBN 3-442-72500-3

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Mit Panna Niki von Tomek Tryzna wurde nun endlich einer der erfolgreichsten polnischen Romane der neunziger Jahre als Fräulein Niemand ins Deutsche übersetzt.

Aus ihrer eigenen Sicht erzählt die fünfzehnjährige Marysia, die kurz vor ihrem Schulabschluss mit ihrer Familie vom Land in eine Arbeitersiedlung in der Großstadt zieht und in der Stadt in vielerlei Hinsicht ihre Unschuld verliert, ihre Geschichte, wobei sich der Autor dem beliebten Mittel des "Stream of consciousness" bedient.

Als Mädchen vom Lande wird Marysia schnell mit der Härte des städtischen Lebens konfrontiert; sie spürt die Verachtung, die ihr von ihren neuen Klassenkammeraden entgegenschlägt. Nur zu der von allen anderen wegen ihrer offensichtlichen Schizophrenie gemiedenen Kasia entwickelt sich eine tiefe Freundschaft.

Kasia lebt in ihrer eigenen Welt, ständig in dem Glauben, ein seltsames Wesen mit dem Namen Dschigi, in der äußeren Gestalt eines Jungen, existiere in ihr und ermögliche ihr, ihr einziges Talent, das Komponieren, auszuüben. Gehorche sie seinen Befehlen nicht, so meint Kasia, würde ihr Dschigi nicht erlauben, gute Musik zu komponieren. Dschigis Befehle haben Spuren hinterlassen, wegen ihres seltsamen Verhaltens wird sie zur Außenseiterin, nicht zuletzt, weil sie sich auf Befehl Dschigis stets in Lumpen hüllt, wird sie vom Rest der Klasse gemieden.

Marysia, die bisher nur den grauen Alltag auf dem Lande kannte, ist fasziniert von Kasia, die so wunderbare Musik schreiben kann und so schwere, komplizierte Gedanken wälzt. Kasia nimmt starken Einfluss auf ihr Leben, in den Augen einer Mutter könnte man sagen, sie übt einen schlechten Einfluss aus, indem sie Marysia Sachen tun lässt, die diese ohne Kasia nie getan hätte. Sie schwänzt die Schule, lügt und flucht. Doch die Gegenwart Dschigis scheint zunächst stärker als die Freundschaft der beiden Mädchen, die zunächst daran zerbricht.

Doch Marysia hat schnell eine neue Freundin gefunden. Ewa war ihr bisher sehr unsympathisch gewesen, da sie eine von denen ist, die ihre Verachtung Kasia gegenüber deutlich zum Ausdruck bringen. Ewa steht für eine ganz andere Faszination, die auf ein Dorfmädchen ausgeübt wird. Sie ist das Kind reicher Eltern, ist modisch gekleidet und steht für all das, was "in" ist, und was für die Zukunft erstrebenswert erscheint. Sie ist schlicht und ergreifend "cool" und steht mit den Normen der Gesellschaft weniger in Konflikt. Bei ihr träumt Marysia von einer goldenen Zukunft, vielleicht als erfolgreiches Model, ein Leben, das so völlig im Gegensatz zu dem Leben ihrer Mutter steht, deren einziger Lebensinhalt es anscheinend war, zu heiraten und Kinder zu kriegen. Dieser Welt möchte Marysia nun endgültig entfliehen.

War die Freundschaft zu Kasia schon sehr intensiv, nimmt die Beziehung zu Ewa ganz eindeutig lesbische Züge an. Im Verhältnis von Ewa und Marysia spielen auch Unterwerfung und Spiel mit dem Tod eine große Rolle, vielleicht macht gerade das einen Teil der Spannung aus, die Marysia in Ewas Gegenwart empfindet. Ewas Freundin Marysia ist plötzlich eine ganz andere Marysia, als sie es noch zu Zeiten der Freundschaft mit Kasia war. Oft erschreckt ihre Kaltblütigkeit und Brutalität, die sich sowohl in Marysias Gedankenwelt als auch in ihrem Verhalten ihren Mitmenschen gegenüber widerspiegelt.

Der Konflikt zwischen diesen beiden Identitäten ist es schließlich auch, der dem Mädchen zum Verhängnis wird. Als es Kasia gelingt, sich endgültig von Dschigi zu lösen, muss sich Marysia zwischen ihr und Ewa entscheiden, doch ihre Vergangenheit macht es nicht einfach. Am Ende steht der Verrat an ihrer besten Freundin, an dem Marysia schließlich selber zerbrechen muss und sich und ihre Umwelt in die endgültige Tragödie zieht.

Marysia lebt während des ganzen Romans in zwei Welten, in ihrer Realität und in ihren Träumen. Ihre Träume dienen stets dazu, der harten Realität zu entkommen. Es ist faszinierend zu lesen, wie sich ihr Alltag, ihre Wünsche und ihre Hoffnungen in den teilweise sehr naiven Träumen widerspiegeln und welch ungeheure Brutalität teilweise in den Gedanken der Hauptperson herumspukt.

Tomek Tryzna ist es hervorragend gelungen, die Gedankenwelt der polnischen Teenager nachzuahmen, jede Handlung Marysias erscheint dem Leser völlig selbstverständlich, man wird eins mit der Hauptperson, die einem trotz oder gerade wegen ihrer zahlreichen Schwächen von Beginn des Romans ans Herz wächst. Man teilt ihre Ängste, ihre Wünsche, ihre Leidenschaft und am Ende ihre Schuld. Das ist die wahre Leistung dieses einzigartigen Buches.

© Till Weingärtner


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