Urs Widmer - Der
Geliebte der Mutter Diogenes
Verlag
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Sonne und Schatten
Die Perspektive aus der diese kleine Geschichte erzählt wird, ist die des Sohnes. Schon der Titel Der Geliebte der Mutter verweist auf die eigentliche Hauptperson: Auf den Dirigenten Edwin, der als junger Mann „mausearm“ gewesen war, "der mit Blitzen im Hirn auf und ab tigerte und der wilden Musik in seinem Schädel nachjagte".
Edwin ist ein Besessener. Er kann nicht komponieren und sein Klavierspiel bleibt jämmerlich, aber er versteht sich schon früh aufs Dirigieren. Der arme Edwin wird reich – so reich sogar, „dass er mit neunzig Jahren der reichste Bürger des Landes war“. Edwin dirigiert nicht nur sein "Junges Orchester", sondern kauft eine Maschinenfabrik. Nach dem II. Weltkrieg gehört ihm die Aktienmehrheit eines Firmenkonglomerats, das "Lokomotive, Schiffe, aber auch Webstühle und Turbinen und neuerdings sogar Hochpräzisionsinstrumente für die Laserchirurgie herstellt".
Während seine Fabrik auf der Seeseite liegt, die immer im Schatten ist, verbringt Edwin fast sein gesamtes Leben auf der Sonnenseite des Lebens. Die Mutter Clara hingegen, die andere Hauptperson des Romans, bleibt ebenso wie die Fabrik auf der Schattenseite.
Sie, deren Namen nur selten genannt wird, wächst als Tochter eines Emporkömmlings aus Domodossola auf, der Vizedirektor eben jener Firma ist, die später – "so viel später nun auch wieder nicht" – Edwin gehören wird. Ihre Kindheit verläuft trotz des äußeren Reichtums unerquicklich. Ihr Vater Ultimo lässt sie oft stundenlang vor ihrem Essen sitzen. Häufig versperrt er die Haustüre, nur weil sie wenige Minuten zu spät aus der Schule nach Haus gekommen ist. Er quält sie mit Worten und Schlägen, die Clara klaglos hinnimmt. Ultimo, der als zwölftes Kind eines armen Säumers zur Welt gekommen ist, überträgt seine schlechten Kindheitserfahrungen auf seine einzige Tochter. Sie soll genauso leiden wie er. Der Vater ist der König. Sein Wort ist Gesetz und ihm darf nicht widersprochen werden. Gleiches wiederholt sich für die Mutter später mit Edwin. Ultimo ist tot – und Edwin ist der neue König, Kaiser, Gott.
Noch bevor seine Karriere wirklich begonnen hat, bittet Edwin die Mutter "Mädchen für alles zu werden. Herz und Hirn des Orchesters". Mit Begeisterung und großer Energie stürzt die Mutter sich auf diese Aufgabe und trägt auf ihre Art und Weise zum Erfolg des Orchesters bei.
"Aber sie hatte nur Augen für ihn", heißt es, während Edwin sie nur beiläufig wahrnimmt. Genauso beiläufig zieht er sie später in sein Bett. Als sie schwanger wird, besteht er auf einer Abtreibung und als er heiratet, erfährt Clara erst per Zufall davon.
Edwins Aufstieg ist steil. Er dirigiert in verschiedenen Städten und begegnet den Musikern seiner Zeit. Als Clara von einer Konzertreise zurückkehrt, bei der auch Trotzki zu den Zuhörern gehörte, stirbt ihr Vater. Der Börsenkrach vom 29. Januar macht sie schlagartig arm – und damit ist ihr endgültiger Abstieg besiegelt.
Sie heiratet und bekommt den Sohn, der - mit eben dieser von Nähe durchdrungenen Distanz - die Liebesgeschichte seiner Mutter erzählen wird. Clara leidet unter Depressionen, sie bekommt Elektroschocks und redet beinahe unausgesetzt von ihrem Selbstmord und dem Mord an ihrem Sohn, den sie nicht alleine zurücklassen will. Auch in ihren Erziehungsmethoden setzt sich das Familienmuster fort.
Edwin, der sie längst
vergessen hat, bleibt sie Zeit ihres Lebens innig verbunden. Allabendlich steht
sie an der Schattenseite des Sees, starrt auf seine Villa und flüstert seinen
Namen. Edwin – der an ihre Lebenstragödie die Schuld trägt, ohne es wirklich zu
wissen.
Die Darstellung der beiden
Pole – der Sonne und des Schattens – ziehen sich wie ein roter Faden durch
dieses schmale Buch. Der Roman nimmt den Leser mit auf eine einhundertdreißig
Seiten lange Reise, die nie bitter, sondern stets mit einer wunderbaren
Leichtigkeit erzählt wird.
Dieses kleine Buch ist ein großes Buch!
© Heide John 2004
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