Leseprobe aus Hilke Rosenbooms: Wirf mich ins Meer zurück


Prolog

Norderney
20. Dezember 1999
nachmittags

Es war vor langer Zeit, als all die Menschen lebten, die mich nicht liebten, mich selber eingeschlossen. An einem frühen Sonntagmorgen vor mehr als siebenundsiebzig Jahren lag ich im Bett, wie heute auch, aber an diesem Tag war ich noch eine junge Frau, ich mußte aufstehen, und es war schwül. Wir waren bei der angeheirateten Familie in Bayern zu einem Bettelbesuch erschienen. Es war der Morgen des zweiten September 1922, an dem wir mit der ganzen Sippe zu einem Picknick aufbrechen sollten, der Tag an dem mein Ehemann Karl Käfer mit aufgeknöpfter Hose unter einem Fliederbusch sterben würde, der Tag, an dem ich mich von einem Fremden lieben ließ.

Letztlich habe ich jeden einzelnen Menschen überlebt, der bei dieser Landpartie anwesend war. Obwohl es natürlich schöner gewesen wäre, wenn man das damals schon gewußt hätte. Es hätte mich getröstet, während ich unter der Hitze litt wie ein altes Weib und mir von meiner Schwägerin Meta anhören mußte, daß ich morgens Tau treten und an meinen unreinen Tagen von verdünnten Essig leben solle. Ich war überzeugt davon, daß ich von allen hier die schwächste war. In meinem Leben war das dicke Ende vorn, nicht hinten.

"Mariechen, schau voran, du mußt keine Angst haben." Schade, daß man sich das nicht selbst aus der Zukunft zurufen kann.

"Ich habe keine Angst", sagt die junge Frau, die ich einmal war, und bekommt schon wieder diesen seltsam strengen Zug um den Mund, den in diesem Leben nur ein einziger Mann lieben wird, aber das ist leider noch fast zwanzig Jahre hin.

"Stimmt, Mariechen, du hast keine Angst, aber du bist immer so ernst. Du tust, als ob du demnächst stirbst."

"Wie soll ich denn sonst sein? Und gesund fühle ich mich auch nicht." Schließlich konnte damals kein vernünftiger Mensch ahnen, daß ich einmal einhundertvier Jahre alt werden würde.

"Genieße das Leben. Und hab Vertrauen. Lieg nicht immer so lange im Bett herum. Und lach mal."

Bei solchen Ratschlägen kann die jüngere Version meiner Existenz nur den Mund verziehen. An diesem Sommertag bin ich unter meiner klebrigen Bettdecke immer und immer wieder eingeschlafen. Der Ehemann an der Waschschüssel war mir bereits am Morgen so fremd, daß ich es kaum ertragen konnte, zu ihm hinüber zu schauen. Er steckte den Hals seinem Spiegelbild entgegen wie ein Söldner, der bei seinesgleichen um einen gnädigen Tod bittet und fuhr mit dem Rasiermesser über die Endmoräne seines Kinns. Ich hörte seinen Atem. Ich hatte Angst vor diesem Tag. Angst vor seiner Schwester, die ihn mit ihren durchdringenden Augen mustern würde und uns doch keinen Pfennig leihen würde. Angst vor dem Wasser, denn er war Nichtschwimmer. Mit Hoffnung marmorierte Angst war manchmal schlimmer als die reine Form.

Als er meine Schultern packte und mich schüttelte, damit ich endlich aufstehen, das Picknick vorbereiten, das Kind anziehen und mich für seine Schwester und deren Pack hübsch machen konnte, muß ich was von "fahr zur Hölle "gemurmelt haben. Jedenfalls kommt mir das heute so vor. Irgendwie, denke ich, wäre es doch tapfer gewesen, wenn ich am Verlauf meines Schicksals wenigstens ein ganz kleines bißchen mitgewirkt hätte.

Aber so war es nicht. Am Morgen des 2. September 1922 war ich siebenundzwanzig Jahre alt, mager, ernst und bereits ältlich, bei der geringsten Anstrengung standen mir Schweißtröpfchen auf der Stirn. Mein rotes Haar war stumpf wie ein staubiger Fuchs. Beim Beischlaf mußte ich husten. Ich hatte einen achtjährigen Sohn, der seinem Vater immer ähnlicher wurde und dadurch meiner Liebe zu entgleiten drohte. Mein Mann hingegen schätzte mich nicht einmal mehr. Er schien mich dafür verantwortlich zu machen, daß unsere Spielzeugfirma nahezu bankrott war, daß seine Schwester zögerte, als Geldgeberin mit einzusteigen, daß wir keine Köchin hatten und unsere Villa in Hamburg hatten verkaufen müssen. Aber ich hielt die Fahne hoch, wie man damals sagte, und ich glaubte das sei es gewesen. Ich konnte nicht ahnen, daß dies eine Kurve war. Steile Lebenskurve. Danach ging es ganz anders weiter.

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